Gibt es einen Weihnachtsmann?
Vor 110 Jahren - am 20. Dezember 1897 - schrieb die achtjährige VirginiaO’Hanlon an die New Yorker Zeitung The Sun einen Brief, um die Sache mit dem Weihnachtsmann zu klären.
Sehr geehrter Herausgeber. Ich bin 8 Jahre alt. Einige von meinen kleinen Freunden sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der Sun steht, ist immer wahr. Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit: Gibt es einen Weihnachtsmann? Virginia O'Hanlon
Edward P. Mitchell, der Herausgeber der "Sun",beauftragte einen erfahrenen Kolumnisten, Francis P. Church, eine Antwort zu entwerfen . . Church war zunächst alles andere als begeistert, einen solchen Brief beantworten zu müssen, doch was Virginia dann zur Antwort erhielt, kann uns auch heute noch die Augen öffnen für die Wunder dieser Welt. Der Text erschien auf der Titelseite der Zeitung und wurde so berühmt, dass er Jahr für Jahr aufs Neue erschien .
Virginia, Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie sind angekränkelt vom Skeptizismus eines skeptischen Zeitalters. Sie glauben nur was sie sehen; sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit Ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen.
Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiss wie die Liebe und Großherzigkeit und Treue. Gäbe es all das nicht, wäre es traurig um uns bestellt. Du kannst die Liebe Deiner Eltern auch nicht sehen und begreifen. Aber gibt es darum diese Liebe nicht ? Du weißt ja, dass es all das gibt, und deshalb kann unser Leben schön und heiter sein. Wie dunkel wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe! Sie wäre so dunkel, als gäbe es keine Virginia. Es gäbe keinen Glauben, keine Poesie – gar nichts, was das Leben erst erträglich machte. Ein Flackerrest an sichtbarem Schönen bliebe übrig.
Aber das ewige Licht der Kindheit, das die Welt erfüllt, müsste verlöschen. Es gibt einen Weihnachtsmann, sonst könntest Du auch den Märchen nicht glauben. Gewiss, Du könntest Deinen Papa bitten, er solle an Heiligabend Leute ausschicken, den Weihnachtsmann zu fangen oder die Wach- und Schließgesellschaft bitten, Euren Kamin zu bewachen. Doch keiner von ihnen würde den Weihnachtsmann zu Gesicht bekommen. Aber was würde das schon beweisen? Trotzdem lägen auf Deinem Platz unter dem Christbaum Gaben der Liebe, die viele Deiner Wünsche erfüllten.
Kein Mensch sieht ihn einfach so. Das beweist gar nichts. Die wichtigsten Dinge bleiben meistens Kindern und Erwachsenen unsichtbar. Die Elfen zum Beispiel, wenn sie auf Mondwiesen tanzen. Trotzdem gibt es sie. All die Wunder zu denken – geschweige denn sie zu sehen –, das vermag nicht der Klügste auf der Welt. Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Die schönsten Dinge dieser Welt kann man nicht sehen und begreifen.
Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter. Warum? Weil es einen Schleier gibt, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal die größte Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein.
„Ist das denn auch wahr?“, magst Du fragen. Du darfst uns glauben, Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer und nichts beständiger. Der Weihnachtsmann lebt, und er wird ewig leben. Sogar in zehn mal zehntausend Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen.
Frohe Weihnachten, Virginia. Dein Francis Church.
Ausschnitt aus dem Abdruck in der SUN
Der Briefwechsel zwischen Virginia O'Hanlon und Francis P. Church stammt aus dem Jahr 1897. Er wurde über ein halbes Jahrhundert, alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit auf der Titelseite der Zeitung gedruckt. Die Sun wurde 1950 eingestellt
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